Folgende Episoden erinnere ich aus meiner Mindelheimer Internatszeit mit Frater G.:
Die Regeln des Internatsleben brachten es mit sich, dass einige Tätigkeiten immer in der Gruppe, quasi im Rudel, ausgeführt wurden. So beendete das gemeinsame Abendgebet die gemeinsame abendliche Lernzeit, bevor es gemeinsam drei Stockwerke höher in die Schlafzimmer ging. Dort eilten alle an die Waschbecken im Waschraum um sich bettfertig zu machen. Da uns die Duschen nur an einem Nachmittag in der Woche zur Verfügung standen, war es Usus, nur mit der Unterhose bekleidet an die Waschbecken zu gehen, um sich auch den Oberkörper zu waschen. Frater G. machte es sich zur Gewohnheit, uns beim Waschen zu beobachten. Es stand in der Tür oder ging durch die Reihen. Er begründete dieses abendliche Ritual mit seiner Aufsichtspflicht und dass er für Ruhe sorgen müsse, heute ahne ich, dass auch andere Motive eine Rolle gespielt haben werden.
Ein weitere Angewohnheit von ihm war, dass er Schüler auf dem Rückweg in ihre Schlafzimmer „abfing“ und zum Gespräch in sein Zimmer holte. Mich bat er, als ich an der Reihe war, auf seine Bettkante zu sitzen und fing an, mich über meine Familie und Freunde zu befragen. Ich war nur in Unterhose, weil auf dem Rückweg vom Waschen. Als ich nach einigen Minuten bat, mir etwas anziehen zu dürfen, legte er lediglich eine Decke über meine Schultern und meinte, das sollte reichen. Mit zunehmender Dauer wurde mir die Situation immer unangenehmer, da auch die Fragen immer intimer wurden: Hast du eine Freundin? Hast du sie schon einmal geküsst? Hast du schon mir ihr geschlafen? – Ich verneinte alles und sagte, dass ich jetzt gerne ins Bett und schlafen gehen würde.
Ich war damals erst wenige Wochen im Internat und als ich Mitschülern von dem seltsamen Ereignis am nächsten Tag erzählte, hieß es, das sei beim G. ganz normal.
Ein anderes Ereignis hat mich, wenige Wochen später, sehr beschäftigt und meine Meinung und Haltung zu Frater G. nachhaltig geprägt.
Ich lag spätabends im Bett und konnte nicht schlafen, weil ich starke Bauchschmerzen hatte. Nach einer gefühlten Ewigkeit überwand ich mich, an der Zimmertür von Frater G. zu klopfen, um ein Schmerzmittel zu erbitten. Frater G. ging an sein Medizinschränkchen und holte eine Schachtel mit Zäpfchen hervor. Er hielt mir eins entgegen – aber in dem Moment, als ich es nehmen wollte, zog er seine Hand zurück und sagte: „Das werde ich dir selber geben.“ Meine Entgegnung, dass ich das schon alleine könne, ließ er nicht zu und wies mich an, mich bäuchlings auf sein Bett zu legen. Er zog sich demonstrativ einen Fingerling aus Gummi über den Zeigefinger – was ich in dem Moment als pure Machdemonstration empfand. Als er mir dann das Zäpfchen einführte, fühlte ich mich ausgeliefert und erniedrigt. Wenigstens wirkte es und ich konnte bald einschlafen.
Im Rückblick denke ich, dass es eine typische Situation war. Frater G. konnte seine Machtposition ausspielen: einem 16-jährigen nicht zuzutrauen, sich das Medikament selbst zu applizieren ist absurd. Zumal er wusste, wie viel Überwindung es mich gekostet hatte, nachts an seiner Tür zu klopfen. Ich lernte aus dieser Begegnung, dass Frater G. Momente der Schwäche ohne zu Zögern ausnutzt, ging danach noch mehr auf Abstand und passte auf, mir keine Blöße zu geben.